Vom 6. bis 9. Juni fanden in den 27 EU-Ländern Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Ursula von der Leyen (EVP – Europäische Volkspartei), Präsidentin der Europäischen Kommission, betont, dass die „Mitte hält“. Auch wenn die Ergebnisse der traditionellen konservativen bürgerlichen Parteien der EVP im Allgemeinen stabil blieben, wenn die Grünen und Liberalen verlieren, zeigt das Ergebnis dennoch einen deutlichen Anstieg der Stimmen für faschistoide Parteien, insbesondere in Deutschland, Frankreich, Italien, in Österreich und den Niederlanden.
Wahlen in einzelnen Nationalstaaten, die nur einen Teil Europas betreffen
Aufgrund des Wahlverfahrens werden Europawahlen zu Recht als „Tests“ für nationale Parlamentswahlen angesehen.
Solange die unterdrückte Klasse, also in unserm Fall das Proletariat, noch nicht reif ist zu seiner Selbstbefreiung, solange wird sie, der Mehrzahl nach, die bestehende Gesellschaftsordnung als die einzig mögliche erkennen und politisch der Schwanz der Kapitalistenklasse, ihr äußerster linker Flügel sein. In dem Maß aber, worin sie ihrer Selbstemanzipation entgegenreift, in dem Maß konstituiert sie sich als eigne Partei, wählt ihre eignen Vertreter, nicht die der Kapitalisten. Das allgemeine Stimmrecht ist so der Gradmesser der Reife der Arbeiterklasse.(Engels, MEW 21, S. 152)
Allerdings sind die Ergebnisse der „Europawahlen“ auf der Ebene des EU-Parlaments wenig aussagekräftig. Der Kontinent ist in 56 Staaten unterteilt, von denen sich zwei über Asien erstrecken (Russland, Türkei). Die Hunderttausenden ukrainischen, weißrussischen und russischen Flüchtlinge und die Millionen türkischen Arbeiter haben kein Wahlrecht. Dazu kommen migrantische Arbeiter und Studierende, denen oft die elementarsten Rechte, darunter das Wahlrecht, verweigert wird. Als internationalistische Kommunisten fordern wir auch auf diesem Gebiet die völlige Gleichstellung unserer ausländischen Klassenbrüder- und schwestern.
Und entgegen der Behauptung, es handele sich um eine „gesamteuropäische“ demokratische parlamentarische Vertretung, sind die Fraktionen in Straßburg das Ergebnis von Vereinbarungen zwischen Abgeordneten, die auf rein nationalen Listen in den Mitgliedstaaten gewählt werden. Eine ungarische Arbeiterin kann daher bei den Wahlen nicht für die Fraktion „Linke/Grüne“ im Europäischen Parlament stimmen, sondern nur für eine ungarische Partei, die sich dieser Gruppe anschließt.
Eine friedliche Einigung Europas unter der Schirmherrschaft des Kapitalismus ist nicht möglich. Die EU ist historisch gesehen ein Versuch, die Widersprüche zwischen den europäischen Imperialismen zu verschleiern und zu versuchen, ihre Wettbewerbsposition gegenüber amerikanischen, chinesischen und russischen Imperialismen zu verbessern. Das bedeutet aber nicht, dass im Krisenfall nicht jede Regierung alles in ihrer Macht stehende tun wird, um „ihren“ nationalen Kapitalismus bestmöglich zu schützen oder seine Position zu verbessern.
Auch sind die EP-Fraktionen politisch alles andere als homogen. In der EVP war z. B. lange die ungarische FIDESZ Vollmitglied, obwohl die Partei Viktor Orbàns in Ungarn bereits eine klar autoritäre und gegenüber zahlreichen Entscheidungen der EU-Gremien feindliche Haltung eingenommen hatte. In der „Fraktion der progressiven Allianz und der Sozialdemokraten“ finden sich neben den meisten traditionellen bürgerlichen Arbeiter*innenparteien der europäischen Staaten Parteien aus den ehemaligen deformierten Arbeiter*innenstaaten, die ihre Wurzeln entweder im Stalinismus oder in der ehemaligen bürgerlichen Opposition haben. Das kann dazu führen, dass aus einem Land bis zu drei Parteien (Rumänien) in der SD-Fraktion vertreten sind..
Die reformistische Arbeiter*innenbewegung im Europäischen Parlament
Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991, die kapitalistische Restauration in der UdSSR und den deformierten Arbeiter*innenstaaten und die kapitalistische Restauration in China haben nicht nur zum Entstehen neuer Imperialismen geführt – sie haben der Bourgeoisie weltweit die ideologische Waffe in die Hand gedrückt, um vor allem gegenüber der proletarischen Jugend triumphierend den Sieg des Kapitalismus und die Niederlage des „Kommunismus“ zu verkünden.
Die sozialdemokratischen Führungen waren nur allzugern bereit, in diesen Jubel einzustimmen. Sie waren immer treu auf Seiten des Imperialismus gestanden und hatten sich durch Sozialpartnerschaft und andere Formen der Klassenzusammenarbeit, durch ihre Kontrolle über Gewerkschaften und Betriebsräte, wie sie glaubten, einen sicheren Platz am Tisch der Sieger verdient.
Stalinistische Bürokraten in den ehemaligen deformierten und degenerierten Arbeiter*innenstaaten wurden von Geschäftsführern ehemals verstaatlichter Wirtschaftssektoren in Zusammenarbeit mit dem Imperialismus selbst zu Kapitalist*innen. Ihr neues gesellschaftliches Sein bestimmte ihr Bewusstsein, sie wurden zu brutalen Verfechtern einer kapitalistischen Akkumulation. (Auch Viktor Orbàn begann seine politische Karriere als Vorsitzender des Jugendverbandes der ungarischen stalinistischen Partei!). Einige dieser Parteien rückten auf den Platz nach, den die Sozialdemokratie frei gemacht hatte – sie wurden zu loyal im Kapitalismus integrierten „Reformparteien“.
Bedeutsam ist wohl das Ergebnis der deutschen SPD, die traditionell in der Fraktion eine bedeutende Rolle hatte: mit einem Stimmenanteil von 13,9 % hat sie das schlechteste Ergebnis ihrer gesamten Parteigeschichte vorzuweisen und liegt sogar noch hinter der neofaschistischen Afd (15,9 %) und weit abgeschlagen hinter den christlich-konservativen Unionsparteien (30 %) Die SPD, die mit bürgerlichen Parteien an der Macht ist, regiert den deutschen Staat so, wie die PSOE den kapitalistischen Spanischen Staat. Die Fraktion nimmt auch bürgerliche Parteien wie die französische PP und die italienische PD auf.
Die Gruppe „Europäische Linke“ im Europaparlament verlor, weil „Modellparteien“ wie PODEMOS, DL und SYRIZA durch ihre Integration in das kapitalistische System die Illusionen ihrer Anhänger in einen Prozess parlamentarischer und gesellschaftlicher Reformen enttäuscht hatten. Der Zuwachs der belgischen PTB/PAB, die von ehemaligen Mao-Stalinisten gegründet wurde, gleicht dies nicht aus. In Frankreich stellten sich LFI und PCF gegen den Generalstreik, der Macrons Rentengegenreform verhindern sollte, und agierten als sozialpatriotischer Flügel in der Nationalversammlung.
Die politischen Vertreter*innen des Bürgertums
Die Stimmengewinne der dem neofaschistischen Spektrum zuzuordnenden Parteien in Frankreich, Italien und Deutschland – den bedeutendsten Imperialismen in der EU – sind ein Alarmzeichen für alle Lohnabhängigen in Europa, über die EU hinaus.
In Österreich hat die FPÖ erstmals bei bundesweiten Wahlen den ersten Platz erreicht (25,4% der Stimmen), vor der bürgerlichen ÖVP (24,5%) und der Sozialdemokratie (23,2%). In Frankreich hat das RN-Bündnis im bürgerlichen Lager mit 31,4% einen klaren politischen Führungsanspruch.
Bereits die Aufsplitterung der dem neofaschistischen Spektrum zuzuordnenden Parteien auf derzeit zwei Gruppen im Europaparlament (Gruppe „Identität und Demokratie“ sowie die Gruppe „Europäische Konservative und Reformer“) zeigt, dass eine Einigung zwischen betont nationalistischen Parteien ein schwieriges Unterfangen ist. Die Anfang Juli von der österreichischen FPÖ, der ungarischen FIDESZ und der tschechischen ANO angekündigte Regruppierung in einer Fraktion der „Europäischen Patrioten“ wird kaum zu einem Einigungsprozess dieses Flügels führen.
Sowohl Grüne als auch Liberale mussten schwere Verluste hinnehmen. Bei den Grünen ist das europaweit darauf zurückzuführen, dass selbst in Ländern, in denen sie an der Regierung beteiligt sind (Deutschland, Österreich, Irland, Belgien) ihre angeblichen „Kernthemen“ Umweltschutz, Energiepolitik und öffentlicher Verkehr nicht wesentlich anders behandelt werden als in den anderen EU-Staaten. In erster Linie mobilisieren vor allem die reaktionären bis hin zu faschistischen Parteien gegen alle Akzentuierungen in der Umweltpolitik. Auch die von den meisten grünen Parteien besetzten Themen wie Menschenrechte, „humane Asylpolitik“ und Pazifismus sind im Dauerfeuer der reaktionären Polemik. Zu deutlich hat sich gezeigt, dass die Grünen in Koalitionen mehr oder minder schnell vor ihren stärkeren Partnern kapitulieren.
Die Ursachen des Aufstiegs faschistoider Parteien
[Der Faschismus…] ist keineswegs die Rache der Bourgeoisie dafür, daß das Proletariat sich kämpfend erhob. Historisch, objektiv betrachtet, kommt der Faschismus vielmehr als Strafe, weil das Proletariat nicht die Revolution, die in Rußland eingeleitet worden ist, weitergeführt und weitergetrieben hat. Und der Träger des Faschismus ist nicht eine kleine Kaste, sondern es sind breite soziale Schichten, große Massen, die selbst bis in das Proletariat hineinreichen. Über diese wesentlichen Unterschiede müssen wir uns klar sein, wenn wir mit dem Faschismus fertig werden wollen. Wir werden ihn nicht auf militärischem Wege allein überwinden – um diesen Ausdruck zu gebrauchen –, wir müssen ihn auch politisch und ideologisch niederringen. (Clara Zetkin, Der Kampf gegen den Faschismus, 20. Juni 1923)
Die Führungskrise des Proletariats begann mit der Kapitulation der Mehrheit der internationalen Sozialdemokratie vor ihrem „eigenen“ Imperialismus zu Beginn des Ersten Weltkriegs (1914). Um diese Krise zu überwinden wurde 1919 die Kommunistische Internationale ins Leben gerufen. Aber die Degeneration der Kommunistischen Internationale ab 1924, ihre katastrophale Politik angesichts der faschistischen Bedrohung in Deutschland, ihre Weigerung, aus der Niederlage von 1933 zu lernen, die Wende zu den „Volksfronten“ (den „organischen Bündnissen mit der demokratischen“ Bourgeoisie) im Jahr 1935, der Verrat in Frankreich (1936) und Spanien (1936-1937) bewiesen, dass die KI selbst konterrevolutionär geworden war.
Die 1938 an ihrer Stelle gegründete IV. Internationale fand unter anderem aufgrund der Verfolgung und Vernichtung bolschewistisch-leninistischer Kader durch Stalinismus und Faschismus während des Zweiten Weltkriegs keinen Widerhall in den Massen. Die Suche nach Abkürzungen, der Skeptizismus gegenüber den Fähigkeiten der Arbeiterklasse, die Anpassung ihrer Führung an den Stalinismus und den bürgerlichen Nationalismus in den Jahren 1949–1951 zerstörten von 1952 bis 1963 die Vierte Internationale unwiderruflich. Seither läuft eine Vielzahl zentristischer Strömungen hinter bürgerlichen Feministinnen, Umweltparteien und sogar islamistischen Reaktionären her. Gleichzeitig haben sie sich in korrupte Gewerkschaftsapparate integriert.
Aufgrund der Diskreditierung des „Trotzkismus“ haben maostalinistische Gruppen ihre Basis halten oder teilweise ausbauen können. Vor allem die Gewerkschaftsbürokraten und „Arbeiter“-, „sozialistische“ oder „kommunistische“ Führer konnten weiterhin ihren Verrat fortsetzen.
Die revolutionären Krisen in Argentinien 2001, Tunesien 2010, Ägypten 2011, Syrien 2011, Chile 2019, Weißrussland 2020, Kirgistan 2020, Sri Lanka 2022 führten nicht zu einer proletarischen Revolution, weil sie in den Händen von Fraktionen der Bourgeoisie blieben oder in eine verfassungsgebende Versammlung fehlgeleitet wurden. Die Verhinderung von Generalstreiks durch bürgerliche Arbeiterparteien, Gewerkschaftsbürokratien und ihre zentristischen Helfer in Frankreich, Deutschland, Großbritannien … hat die Demoralisierung des Proletariats verstärkt.
Nicht gewillt, den Kapitalismus zu bekämpfen, sind die alten Führungen auch nicht im Stande, vor allem der Jugend, die gegen Umweltzerstörung, die zionistische Barbarei und die Komplizenschaft des westlichen Imperialismus revoltiert, eine Perspektive zu weisen. Seit langem haben sich diese Parteien und bürokratischen Apparate von einer der grundlegenden Ideen der revolutionären Arbeiter*innenbewegung verabschiedet – vom Internationalismus und der Solidarität. Daher können sie den zynischen Spaltungsmanövern der Bourgeoisie und ihrer reaktionären und faschistoiden Vertretungen, die weltweit einen Feldzug gegen Migrant*innen und Asylsuchende begonnen haben, außer moralisierenden Appellen nichts entgegensetzen.
Die Ausbeuterklasse ist zu allem bereit
Die Unterwürfigkeit der Bürokratien der Arbeiter*innenorganisationen untergräbt auf lange Sicht ihre Nützlichkeit für die herrschende Klasse. Europaweit haben seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts sozialdemokratische Parteien meistens in Koalitionsregierungen mit bürgerlichen Parteien – „Austeritätspakete“ beschlossen und soziale Verschlechterungen (erstes Sparpaket in Österreich 1997, Hartz IV in Deutschland …) mitgetragen. In Österreich. Italien, Belgien Frankreich und Großbritannien haben die Gewerkschaftsbürokratien durch den Verzicht auf effektive Kampfmaßnahmen, bis hin zum Generalstreik, derartige Angriffe möglich gemacht.
Jedes Zurückweichen, jede Niederlage der refomistischen Parteien oder der von ihnen kontrollierten Gewerkschaften stärkt das Selbstbewusstsein der herrschenden Klasse. Indem sich der Zugriff auf die Massen durch die alten Führungen lockert, der Organisationsgrad der Klasse sinkt, wird die Rolle der bürgerlichen Arbeiterparteien als Transmissionsriemen der Bourgeoisie in die Arbeiterklasse immer entbehrlicher.
Um die Ausbeutung des Proletariats zu steigern, reichen der herrschenden Klasse die „ökonomischen“ Angriffe – Erhöhung der Arbeitszeit, Senkung der Unternehmerbeiträge zum Sozialsystem, Inflation, Mieterhöhungen – nicht aus.
Auch die politische Entwaffnung des Proletariats (und aller Lohnklassen, der Jugend etc.) gehört zum Arsenal der Bourgeoisie zur Sicherung ihrer Macht.
Noch mehr man kann sagen, dass die Bourgeoisie in politischer Hinsicht erst in dem Moment ihre höchste Macht, die größte Konzentration an Kräften und Mitteln, an politischen und militärischen Mitteln, an Betrug, Vergewaltigung und Provokation, das heißt die höchste Blüte ihrer Klassenstrategiere erreicht, wo ihr der soziale Untergang am unmittelbarsten droht. Trotzki, Die neue Etappe, S. 55 (1921, Verlag der Kommunistischen Internationale)
Die jahrzehntelange Zermürbung der meisten europäischen Arbeiter*innenklassen verlockt die Bourgeoisien heute dazu, die politischen Schrauben anzuziehen und grundlegende demokratische Freiheiten und soziale Absicherungen anzugreifen, weil von den traditionellen Führungen der Klasse kaum oder kein effektiver Widerstand zu erwarten ist. Die Hauptinstrumente dieser Offensive sind Fremdenhass, Rassismus und Chauvinismus.
Einerseits verstärkt die Mehrheit der herrschenden Klasse die Bespitzelung der Bevölkerung, schränkt Freiheiten ein und stärkt den Unterdrückungsapparat des Staates. Andererseits treibt eine wachsende Minderheit die alten „demokratischen“ Parteien in Richtung Fremdenfeindlichkeit und Autoritarismus oder erleichtert die Entstehung rassistischer und/oder neofaschistischer Parteien, die Ausländer, oft Muslime, für alle Fehlfunktionen des untergehenden Kapitalismus verantwortlich machen.
Da diesen Bewegungen aber häufig (noch) die „Massenbasis“ auf der Straße fehlt, versuchen sie, ihr Programm auf „parlamentarischem“ Weg zu erreichen, und, wenn sie an die Regierung kommen, die ihnen dadurch zur Verfügung stehenden Zwangsinstrumente des bürgerlichen Staates gegen die Arbeiterklasse einsetzen. Zugleich versuchen sie aber, das parlamentarische System selbst, den Pluralismus und die Meinungsfreiheit zu schwächen und zu untergraben. Sie versuchen, unter dem verlogenen Deckmantel der „direkten Demokratie“ mit plebiszitären Elementen die Herrschaft der Bourgeoisie zu stärken. Sie versuchen, ihre Kontrolle auf Massenmedien und das Internet auszudehnen, um ihre arbeiterfeindliche, fremdenfeindliche, patriarchalische und homophobe Propaganda zu verstärken.
Ihre Wahlerfolge ermutigen die faschistischen Schlägertrupps. Die Enttäuschung, die die Führer faschistischer Parteien hervorrufen, wenn sie an die Macht kommen (Italien, Ungarn, Österreich, Niederlande, Finnland, Kroatien, Tschechische Republik, Slowakei) oder auch nicht an die Macht kommen (Frankreich, Deutschland, Schweden …), kann auch zur Abspaltung von offen faschistischen, gewalttätigen und allen demokratischen Errungenschaften feindlich gesinnten Organisationen führen, die zum ersten Mal seit den 1920er Jahren ein Massenpublikum haben.
Die Reaktion richtet sich gegen eingewanderte Arbeiter und ihre Nachkommen
Migration ist Teil der gesamten Menschheitsgeschichte. Naturkatastrophen, Hungersnöte, bewaffnete Konflikte und Veränderungen in den Produktivkräften haben schon immer zu Menschenströmen geführt. Diese Migration ermöglichte das Überleben der menschlichen Spezies.
Kapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus haben die Migration seit dem 19. Jahrhundert massiv zunehmen lassen. Die irische Hungersnot 1843 und die dadurch ausgelöste Flucht von 1,5 Millionen Menschen oder die Massenemigration aus Italien (zwischen 1861 und 1960 wanderten 25 Millionen Italiener*innen aus!) sind nur zwei Beispiele. Damals wie heute versuchten Kapitalist*innen, aus der Not der Migrant*innen Kapital zu schlagen. Sie wurden als Lohndrücker*innen eingesetzt, ihnen wurden reguläre Arbeitsverträge verweigert, und man heizte religiöse oder ethnische Fragen an, um eine Solidarität der Ausgebeuteten untereinander zu verhindern. Friedrich Engels hat wiederholt scharfe Kritik an den nationalistischen, reaktionären Trade-Union-Führern in England geübt, die den irischen Arbeiter*innen ihre Solidarität verweigerten, Lenin an den „Sozialisten“ der Vereinigten Staaten, die sich der Immigration ausländischer Arbeiter*innen widersetzten.
Die Bourgeoisien der ehemaligen Kolonialmächte wie Frankreich oder Großbritannien konnten nach dem 2. Weltkrieg und der „Entkolonisierung“ auf Arbeitskräfte aus ihren ehemaligen Kolonien zurückgreifen. Die niederländischen, deutschen und österreichischen Kapitalisten rekrutierten ab 1960, „Gastarbeiter“ aus der Türkei und Jugoslawien.
In den letztgenannten Ländern sowie in den skandinavischen Staaten gab es nicht nur Sprachbarrieren, sondern auch andere Trennlinien zwischen inländischen und ausländischen Arbeitnehmern (z. B. durch die Schaffung eigener Wohnsiedlungen). Entscheidend ist jedoch, dass (reformistische) Gewerkschaften lange Zeit keine Solidarität mit „Gastarbeitern“, sondern ein paternalistisches Verhalten an den Tag legten. Ausländische Arbeitnehmer wurden instinktiv als Konkurrenten angesehen – Vollbeschäftigung hin oder her. Der Mangel an sozialen Kontakten (z. B. gewerkschaftlich organisierte Freizeitaktivitäten mit einheimischen Arbeitern, Ausbildung, politische Bildung) verschärfte die Trennung und erleichterte die Hetze reaktionärer Kräfte gegen Migranten.
Die westliche Einmischung im Nahen Osten (Irak, Libyen, Syrien), Zentralasien (Afghanistan) und die von den imperialistischen Mächten angeheizten Konflikte in Afrika und die Auswirkungen der weltweiten Naturzerstörung durch die kapitalistische Produktionsweise waren dann im 20. Jahrhundert Auslöser für neue Fluchtbewegungen.
Sogenannte „Neue Rechte“, die sich offiziell von den schlimmsten Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus distanzieren, um umso unverhohlener faschistische Konzepte zu verbreiten, propagierten unter dem Schlagwort des „Ethnopluralismus“ Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Die europaweit vernetzten und mit der US-amerikanischen faschistischen Bewegung verbundenen Identitären spielen hier eine wichtige Brückenfunktion. Es gelingt diesen Faschisten, durch eine Mischung aus weißem Überlegenheitswahn und dem Anknüpfen an reaktionäre religiöse Gefühle („christliches Abendland“) die faschistoiden Parteien zu beeinflussen.
In den meisten Ländern steht die Arbeiter*innenbewegung dieser Offensive wehrlos gegenüber, weil ihre traditionellen Parteien selbst opportunistisch seit Jahren eine mehr oder minder ausländerfeindliche und spalterische Politik betreiben.
Nach den EU-Wahlen haben bürgerliche Medien gerne darauf verwiesen, dass eines der wenigen Länder, in denen die sozialdemokratische Partei keine Verluste, sondern Zugewinne verbuchen konnte, Dänemark war. Gerade die dänische SP betreibt eine so restriktive Migrationspolitik (Abschaffung des „spontanen Asyls“, für die Errichtung von Lagern an den EU-Außengrezungen, eine extreme Restriktion beim Familienzuzug, Arbeitspflicht, um sich spätere (!) Sozialleistungen zu „erarbeiten“ etc.). Auch der Erfolg des „Bündnis Sarah Wagenknecht“ in Deutschland zeigt, dass Nationalismus und Ausländerfeindlichkeit kein Privileg faschistischer Parteien wie der AfD ist. Die sozialdemagogische und gleichzeitig nationalistische Haltung des BSW hat bei den EU-Wahlen 6,2 % der Stimmen erhalten, „DIE LINKE“ ist auf 2,7 % abgestürzt.
Die Umgruppierungen im bürgerlichen Lager sind in vollem Gange, und sie kündigen neue, verschärfte Angriffe auf die Lohnabhängigen, Migrant*innen, Frauen, die Jugend in Ausbildung, Homosexuelle… an.
Die internationalistischen Kommunist*innen müssen die Aufgabe bewältigen, das sozialistische Klassenbewusstsein in die Massen zu tragen, also die Erkenntnis der Notwendigkeit des Sturzes der kapitalistischen Gesellschaft.
Neben der Verteidigung gegen die Angriffe der Bourgeoisie auf die materiellen Lebensbedingungen der Arbeiter*innenklassen in Europa gilt es, die demokratischen Errungenschaften der Arbeiterbewegung zu verteidigen. Dazu ist es unerlässlich, die internationale Solidarität hochzuhalten. Kein Nachgeben gegenüber dem Nationalismus, dem Protektionismus, der Fremdenfeindlichkeit.
Internationalismus und revolutionäre Strategie
Die Antwort auf diese Rückschritte besteht nicht in der vergeblichen Suche nach „demokratischen“ Verbündeten innerhalb der Bourgeoisie oder nach einer „Demokratisierung“ der Unterdrückungskräfte, sondern in der Rückkehr zur Strategie des Klassenkampfes gegen die Spaltung der Ausgebeuteten und Unterdrückten, für proletarische Solidarität, damit das Proletariat die Führung im Kampf gegen Ausbeutung und gegen jede Unterdrückung übernimmt. Dies erfordert den Aufbau revolutionärer Arbeiterparteien, die sich nicht auf kurzfristige Wahlerfolge konzentrieren, sondern auf Mobilisierungen, die auf den Sturz des kapitalistischen Systems abzielen und den Weg zum Sozialismus ebnen.
Ohne den Kampf der Massen kann nichts erreicht werden, aber die Summe der Kämpfe wird nicht ausreichen, um die Ausbeuterklasse endgültig zu besiegen. Wir brauchen eine Klasse, die die Kämpfe anführt, die weiß, wie man sich zurückzieht, um die Offensive gestärkt wieder aufzunehmen, die ein klares Ziel und eine engagierte und entschlossene Partei hat.
Dazu gehört die Einheitsfront der Arbeiter gegen jede wichtige Maßnahme, die die Arbeiterklasse, Frauen, Arbeiter ohne Papiere, Studenten usw. trifft. Ebenso wichtig ist es, die Organisation der Massen zu unterstützen – einerseits in den bestehender Klassenorganisationen (vor allem in den Massengewerkschaften) gegen die in den bürgerlichen Staat integrierten Bürokratien, für eine echte Arbeiterdemokratie und für Unabhängigkeit von den Bossen und ihrem Staat. Andererseits entstehen in jedem großen Kampf neue Organe vom Typ der Arbeiterräte, die breiter sind als Gewerkschaften vom Typ Arbeiterräte. Wir müssen möglichst breite Schichten der arbeitenden Bevölkerung, Jugendliche in Ausbildung, verarmte Selbstständige usw. für die Revolution gewinnen.
Grundlegend wird die Propagierung der Arbeiter*innenselbstverteidigung. Der Vormarsch reaktionärer, chauvinistischer, faschistischer Parteien ermutigt faschistische Schlägerbanden, Streikbrecher, aufgehetzte Lumpen zu gewalttätigen Übergriffen auf Migrantinnen, Asylwerber, politische Aktivisten der Arbeiterbewegung. Je stärker der Zugriff der faschistoiden Kräfte auf den Staatsapparat wird, desto gefährlicher sind Illusionen, dass die Staatsorgane (Polizei) die Angegriffenen schützen würden.
Aber heute gibt es keine Partei mit der Tradition, Autorität und Verankerung der Bolschewistischen Partei von 1917. Das Kollektiv Permanente Revolution ruft dringend zur programmatischen Neugruppierung aller Aktivisten, Fraktionen und nationalen Organisationen (darunter in Europa die NPA-R in Frankreich, die PCdL in Italien KoZ in der Türkei, RSO in Deutschalnd und Österreich …), international (insbesondere die L5I) für den Aufbau der revolutionären Arbeiterpartei in jedem Land, der revolutionären Arbeiterinternationale auf der ganzen Welt, auf. Die Umsetzung eines Aktionsprogramms (Verteidigung von Flüchtlingen und ausländischen Arbeitern, Kampf gegen den imperialistischen, bürgerlichen Militarismus, Miliz der Ausgebeuteten und Unterdrückten, gleitende Lohnskala, Enteignung großer kapitalistischer Konzerne, Arbeiterregierung, Auflösung der NATO, Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa) ist dringender denn je. Es ist höchste Zeit, die Führungskrise des Proletariats zu beenden.